Die Stadt Bethlehem in meiner Geschichte müßt ihr euch so vorstellen, wie sie auf vielen Weihnachtskrippen bei uns zu sehen ist. Da stehen keine flachen, morgenländischen Häuser, sondern solche mit steilen Dächern und hohen Fachwerkgiebeln, und eine Mauer mit zwei turmbewehrten Toren schließt die Stadt ein und schützt sie.
Als der Engel damals den Hirten die Botschaft von der Geburt des Christuskindes im armseligen Stall verkündete und gleich darauf das Gloria der Engelschöre wie das Spiel einer mächtigen Orgel über das Feld hinklang, da blieb in Bethlehem alles still.
Die Bürger der kleinen Stadt hielten sich an die Regel, nach der man mit den Hühnern gehen soll, und die vielen Fremden die wegen der kaiserlichen Volkszählung in die Stadt Davids gekommen waren, schliefen wie jeder einsehen wird, tief und fest nach der beschwerlichen Anreise.
Nur einer in Bethlehem schlief nicht. Es war der Nachtwächter. Ruhig und unverdrossen stapfte der kleine , kugelige Mann durch die Straßen. Als Zeichen seines Berufes und für alle Notfälle trug er eine Hellebarde. Aber sie war an manchen Stellen braunrot vom Rost und tauchte nicht mehr viel. Sein Horn auf dem er vor und nach dem Stundenruf blies, war vor Jahren ein ganzes Stück der Länge nach gerissen. Und jetzt klangen die Töne so, als kämen sie aus einer alten Gießkanne.
In der Nacht da Jesus geboren werden sollte, machte er also seine einsame Runde, vorm Jerusalemer Top über den Marktplatz, dann die lange Gasse hinunter bis zum unteren Tor und wieder zurück. Dann kletterte er die steile Treppe zum Obergeschoß des Jerusalemer Tors hinauf.
Der Nachtwächter sah durch eine Luke drüben bei den Weiden die Lagerfeuer der Hirten. Sie lkagen wie kleine Lichtpunkte in den dunklen Hängen. Dann aber strahlte es hell auf. Der glanz wurde mächtiger und verschwand nach einer Weile. Da entdeckte noch etwas, Unweit der Stelle, wo der helle Glanz auf den Hang heruntergekommen war, leuchtete ein großer Stern in ungewöhnlicher Klarheit.
Was hat das bloß zu bedeuten? murmelte er und tappte dann die Stiege hinunter. Kurz entschloßen holte er den Torschlüssel vom Haken, öffnete den Durchlaß für die Fußgänger, schlüpfte hinaus und schloß wieder ab.
Seit seiner Bubenzeit kannte er Weg und Steg in den Feldern und Wiesen um Bethlehem. So hatte er keine sonderliche Mühe, zu dem Stern hinzulaufen. Bald konnte er in dem milden Licht einen windschiefen Stall erkennen. Er sah eine Gruppe von Hirten darin verschwinden. Noch ein paar Schritte, und der Nachtwächter konnte duch den Türspalt hineinschauen.
Über die Schulter eines Hirten hinweg sah er einen Mann und eine Frau.
Erst als sich der Alte vor ihm bückte, um sein Geschenk hinzulegen, fiel der Blick des Nachtwächters auf das kleine Kind in der Krippe, und er glaubte, noch nie ein solches Kind gesehen zu haben.
Da merkte er, daß er mit leeren Händen vor der Krippe stand. Was sollte er tun?
Doch plötzlich, er wußte nicht wie er darauf gekommen war, setzte er sein Horn an die Lippen und blies. Er dachte nicht mehr daran, daß es nur Gieskannentöne von sich gab.
Natürlich setzte er sachte an. Das Kind sollte ja nicht erschrecken. Aber da bleib ihm fast der atem weg. Der erste Ton kam schön und rund. Der zweite folgte . Und dann spielte der Nachtwächter eine Melodie , ein Wiegenlied für das Kind in der Krippe. Der kleine dicke Mann verneigte sich und ging durch die Nacht nach Bethlehem zurück.
Es war Zeit für seinen nächsten Rundgang. Unter dem Tor schaute er noch einmal zurück. Der Stern stand wie zuvor über dem Stall und leuchtete in stiller Klarheit.
Quelle:
Der Text stammt aus einem kleinen Heftchen aus den 70er Jahren, den Milupa einmal verteilt hat. Die Ursprungsquelle ist mir nicht bekannt.